Der Islam -
Eine Einführung von Bernhard Priesmeier
Notwendige Begriffsklärungen
Der Islam ist neben dem Juden- und Christentum die dritte große
Weltreligion in der Tradition der Bibel, die im "Haus der Weltreligionen"
präsent ist. Im Koran, dem geoffenbarten Wort Gottes, heißt es: "Wir
glauben an GOTT und an das, was herabgesandt wurde zu Abraham, Ismael,
Isaak, Jakob und den Stämmen, und an das, was Mose und Jesus zuteil wurde,
und an das, was den Propheten zuteil wurde von ihrem Herrn. Wir machen bei
keinem von ihnen einen Unterschied. Und wir sind IHM ergeben" (2:136).
Die Bedeutung des arabischen Wortes Islam ist völlige Hingabe an Gott
und seinen Willen. Im übertragenen Sinne deutet es auf das innere und
äußere Heil und den Frieden, den man/frau durch diese Hingabe an den
Schöpfer und Gesetzgeber des Universums erlangt. Der Begriff Islam hat den
selben Wortstamm wie Salam (hebräisch: Shalom), S L M, was direkt Frieden
im Sinne eines allumfassenden Heilseins (heile Seins) bedeutet.
Ursprünglich definierte der Begriff Islam nicht eine bestimmte
Gemeinschaft und deren Glaubensüberzeugungen in Abgrenzung zu anderen,
sondern bezeichnete den Kern wahrer Religiösität schlechthin.
Wer durch Hingabe an Gott Frieden und Heil anstrebt, ist ein M u s l i
m. Dieses arabische Wort wurde im Persischen zu Moslem (ähnlich wie
Hussein zu Hossein) und in dieser Form Teil des deutschen Wortschatzes.
Im Zentrum der Religion des Islam steht das durch den Propheten
Muhammad an die Menschen geoffenbarte Wort Gottes. Diese Offenbarung ist
in einem Koran (arabisch: qur-an) genannten Buch bewahrt. Koran bedeutet
Rezitation; der Koran ist das, was rezitiert wird und wegen seines
göttlichen Ursprungs in der Originalsprache unmittelbar auf tiefere
Schichten der menschlichen Psyche wirkt.
Der Islam als Lebensordnung
Vor allem aber enthält der Koran eine Botschaft, eine Anleitung für die
Menschen, wie man gemäß dem göttlichen Willen und Gesetz "richtig" lebt.
Seine grundlegenden Markierungen für den rechten Lebensweg bilden die
Scharia (wörtlich: den Weg zur Quelle/Tränke <des Heils>). Innerhalb der
Scharia ist zu differenzieren zwischen den dort festgelegten
Verpflichtungen des Menschen gegenüber Gott ('Ibadat) und den Grundnormen
und Grundprinzipien des menschlichen Verhaltens gegenüber seiner
natürlichen und sozialen Umwelt (Mu'amalat). Wichtigste Quelle der
Interpretation der Scharia ist die Sunna des Propheten, die Überlieferung
dessen, was er sagte, tat oder unterließ. Die einzelnen
Überlieferungsberichte werden Hadithe genannt.
Da der Islam nicht nur spirituelle Werte vertritt sondern auch Regeln
für das Leben umfasst, kann er nie Glaube allein sein sondern ist immer
Glaube und praktische Lebenshaltung in Einem. Fünf Merkmale gelten als die
verbindlichen Grundlagen ("Pfeiler") einer islamischen Glaubens- und
Lebenseinstellung:
? das Bekenntnis, es gebe nur einen GOTT und Muhammad sei SEIN Gesandter;
? das täglich fünfmalige Gebet,
? die Enthaltsamkeit von Essen, Trinken und sexuellen Handlungen zwischen
Sonnenaufgang und Sonnenuntergang im Fastenmonat Ramadan, der sich nach
dem Mondkalender richtet und deshalb durch das Sonnenjahr wandert; er wird
mit dem "Fest des Fastenbrechens" (türkisch: "Zuckerfest") beendet;
? die Sozialsteuer als "Reinigung" von jenen materiellen Gütern, die nicht
unbedingt für das eigene Leben benötigt werden; es handelt sich dabei
nicht um "Almosen", sondern um eine genau berechnete Steuer zum Zwecke der
Umverteilung, auf die die Bedürftigen ein Recht haben;
? die Pilgerfahrt zum geographisch-spirituellen Mittelpunkt des Islam, der
Kaaba in Mekka.
Was Islam als Lebensregel und -ordnung darüber hinaus konkret bedeutet,
ist unter den Moslems nicht unumstritten.
Islamismus (Fundamentalismus)
Das Islambild wird in der Öffentlichkeit gegenwärtig vor allem durch die
politische Bewegung der Islamisten geprägt, die als Antwort auf das
Versagen der kapitalistischen wie auch der realsozialistischen "Moderne"
entstand, die elementarsten materiellen und Lebensbedürfnisse der
überwiegenden Mehrheit der Menschen in den mehrheitlich muslimischen
Länder zu befriedigen. Der Islamismus, der sich als Alternative zu
Kapitalismus und Kommunismus versteht, findet in der Zeit des frühen Islam
ein Modell, ein so genanntes "islamisches System" verwirklicht, dass es in
Verbindung mit der modernen Technologie wiederherzustellen gelte. Dadurch
sei es möglich, alle Ungerechtigkeiten abzuschaffen und alle Probleme der
heutigen Menschheit zu lösen. Kennzeichnend für die Islamistenbewegung
ist, dass ihr Führungspersonal sich überwiegend nicht aus den Kreisen
traditioneller religiöser Gelehrter sondern aus Natur- und
Ingenieurwissenschaftlern rekrutiert, die ihre Ideologie u. a. als eine
neue Philosophie der Technik ansehen, die die Integration von
Hightech-Systemen in die gottgewollte Lebensordnung anstrebt.
Traditionalismus
Tatsächlich dürften traditionelle Auffassungen des Islam verbreiteter sein
als der Islamismus: Die Menschen orientieren sich an Werten, Normen und
Praktiken, die über Generationen hinweg von Rechtsschulen, Gesellschaft
und Familie tradiert wurden, gleich, ob sie auf den Lehren des Koran
basieren oder soziokulturell begründet sind. Da es sich bei letzteren um
die Überzeugungen und den Lebensstil von Moslems handelt, werden sie mit
"dem Islam" gleichgesetzt. Charakeristisch ist ein weit gefasster Begriff
der Scharia, der nicht nur die im Koran enthaltenen Verhaltensregeln
sondern auch die der Sunna und der Rechtsschulen einschließt.
Der "Modernismus" der "Liberalreligiösen"
Als "liberal" oder "modernistisch" gilt jenes Verständnis, das den Islam
nicht als fest umrissenes Gesellschaftsmodell ansieht, sondern als einen
Glauben, dessen Werte und Normen unter verschiedenen sozialen,
historischen und geographischen Bedingungen auf spezifische Weise auf die
jeweilige Wirklichkeit zu beziehen und in die Lebenspraxis umzusetzen
sind.
Jesus Christus im Islam
Der Islam erkennt die Propheten der Bibel an, die am häufigsten im Koran
erwähnte Person ist der Prophet Mose, am zweithäufigsten ist von Abraham
die Rede, welcher als Urbild eines Gottergebenen (Moslems) gilt. Seiner
Bereitschaft zur Opferung seines Sohnes wird bis heute am höchsten Fest
des islamischen Jahres, dem Opferfest gedacht. Abraham und sein Sohn
Ismael werden als die Erbauer der Kaaba zu Mekka verkehrt, des
geographisch-spirituellen Mittelpunkts der Welt des Islam.
Bedeutsam für den christlich-islamischen Dialog dürfte die
herausgehobene Position Jesu als Prophet und Messias der Juden sein. Der
Islam ist die einzige Weltreligion, die eine auf Jesus, den Sohn der Maria
bezogene Christologie beinhaltet. Neben dem Koran ist mit einem Brief
Muhammads an den christlich-koptischen Kaiser von Äthiopien eine wichtige
christlogische Grundaussage bis heute erhalten geblieben: "Ich bezeuge,
dass Jesus, der Sohn der Maria, der Geist Gottes ist und sein Wort, dass
er in Maria eingab, die Jungfrau, die Gute, die Reine. So empfing sie
Jesus, den Gott mit seinem Geist schuf und ihm das Leben einhauchte, wie
er Adam mit seinen Händen schuf und ihm das Leben einhauchte. Ich rufe
dich zu Gott allein, der keinen Gefährten hat."
Jesus unterscheidet sich von allen anderen Menschen dadurch, dass er
nicht ein gewöhnliches Kind einer Familie ist, sondern wie Adam durch
Gottes Schöpfungswort zur Existenz gebracht wurde. Jesus verkörperte den
Geist und die Absichten Gottes in besonderer Weise, doch er war nicht Gott
sondern Mensch und damit Geschöpf. Er war als Messias zu den Juden
gesandt. Er kam zu ihnen als ein Gesandter Gottes, um die Thora zu
bestätigen, zugleich jedoch den strengen Formalismus ihrer praktischen
Umsetzung unter Hinweis auf die Intentionen zu überwinden: "(Ich komme),
um euch einiges von dem zu erlauben, was euch verboten wurde. So komme ich
zu euch mit einem Zeichen von eurem Herrn. Daher fürchtet Gott und
gehorchet mir (3:50). Mit Jesus Christus erfährt das Handeln Gottes mit
den Menschen einen neuen Ausgangspunkt, der das Erscheinen und Wirken des
letzten Gesandten, Muhammad, vorbereitet. Muhammad sagte einmal: "In
meinem Auftreten hat Gott die Bitte meines Vaters Abraham erhört und die
Gute Botschaft meines Bruders Jesus erfüllt."
Muhammad, der Gesandte Gottes, das Siegel der Propheten
Muhammad wurde um das Jahr 570 u. Z. in Mekka auf der arabischen Halbinsel
geboren. Als Araber war er ein Nachkomme Abrahams und seines Sohnes
Ismaels. Er bekannte sich wie Abraham zu dem Glauben an den EINEN GOTT,
ohne dabei Jude oder Christ zu sein. Ab seinem vierzigsten Lebensjahr
empfängt er durch den Erzengel Gabriel göttliche Botschaften, die im Koran
gesammelt sind. Muhammad wird nicht nur der spirituelle sondern auch der
politische Führer seiner Gemeinschaft. Mit dem Koran empfängt die
Menschheit eine abschließende Botschaft Gottes, die die vorherigen
Verkündigungen in ihrem wesentlichen Kern bestätigt und - im Unterschied
zu Thora und Evangelium - zeitlose und damit für immer gültige Regeln
hinterlässt. Deshalb gilt Muhammad als das "Siegel der Propheten".
Sir Muhammad Iqbal drückte dies mit folgenden Worten aus:
"Im Islam erreicht die Prophetie ihre Vollkommenheit, indem sie die
Notwendigkeit ihrer Vernichtung erkennt. Das schließt die kühne Erkenntnis
ein, das Leben nicht immer am Gängelband geführt werde, dass der Mensch,
um volles Selbstbewusstsein zu erreichen, am Ende auf seine eigenen
Bestände zurückgeworfen werden muss... Der dauernde Appell an Vernunft und
Erfahrung im Koran und der Nachdruck, den er auf Natur und Geschichte als
Quellen menschlicher Erkenntnis legt, sind alle verschiedene Aspekte der
selben Idee der Finalität."
Die Aleviten
In Deutschland leben heute mehr als 3 Millionen Menschen, die sich zum
Islam bekennen. Mehr als 10 Prozent gehören zur Glaubensrichtung der
Aleviten-Bektaschiten. Diese besondere Ausprägung des schiitischen Islam
vertritt esoterische Lehren, die weitgehende Übereinstimmungen mit der
islamischen Mystik (Sufismus) aufweisen. Die materielle Welt ist nach
alevitischer Auffassung eine Entäußerung und Vergegenständlichung der
Kraft Gottes. Durch höchstmögliche Selbstvollendung vermag das bewussteste
aller Geschöpfe, der Mensch, zum "vollkommenen Menschen" zu werden, dessen
Erkenntnis die gesamte Schöpfung und ihren Schöpfer umgreift. Im
Bewusstsein des "vollkommenen Menschen" vermag Gott sich selbst wie in
einem Spiegel zu sehen und sich dadurch seines unendlichen Potentials
bewusster zu werden.
Da der "vollkommene Mensch" der letztendliche Zweck der Schöpfung ist,
stellt die menschliche Selbstentfaltung die höchste und wichtigste Form
des Gottesdienstes dar. Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen sowie
starre Regeln oder Systeme, wie sie der Traditionalismus und der
Islamismus verfechten, widersprechen alevitischer Glaubens- und
Lebenshaltung und machen die Aleviten der sunnitischen Mehrheit
"verdächtig". Dabei geht es ihnen nur darum, den spirituellen Wesenskern
der Religion über alles andere zu stellen.
Islam und Krieg
Der Koran erlaubt den Gläubigen, sich gegen Angriffe zu verteidigen;
dies ist eine Form des Einsatzes auf dem Wege Gottes (djihad). Djihad
bedeutet Einsatz, Engagement. Für Krieg kennt der Koran zwei andere
Begriffe, Harb und Kital. Während der Begriff "Harb" als Synonym für
Unfriede und Unsicherheit den Gegensatz zu "Islam" verkörpert, ist mit "Kital"
der Krieg im Sinne von bewaffneter Auseinandersetzung gemeint. Der
Begriff "Heiliger Krieg" stammt nicht aus dem Islam, sondern wurde von
Papst Gregor I. (590 - 604) geprägt. Er macht im islamischen Denken
keinen Sinn, weil die Unterscheidung zwischen "profan" und "heilig" dem
islamischen Grundsatz "Tauhid" widerspricht, demzufolge nicht nur Gott
Einer ist sondern auch nichts existiert, was nicht Seinem Gesetz
unterliegt.
Der Koran legitimiert den Verteidigungskrieg (22:39, 2:190) und gebietet
den Friedensschluss, wenn der Angreifer Friedensbereitschaft zeigt
(8:61). Seine Aussagen über den Krieg gegen die Ungläubigen
(insbesondere in Sure 9) beziehen sich konkret auf den Überlebenskampf
gegen die herrschende Klasse der Stadt Mekka.
Krieg wird im Koran als Ausnahmezustand gesehen, der die ursprüngliche
gute Ordnung Gottes beschädigt. Diese gute Ordnung wieder herzustellen,
ist die Aufgabe jener, die sich gegen Aggression und Unterdrückung
verteidigen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Vergeltung
einer Untat selbst eine Untat von gleichem Maße ist; deshalb wird sie
von Gott zwar nicht bestraft aber auch nicht belohnt (42:40). Belohnt
wird nur das Bemühen, zu verzeihen, Besserung zu schaffen (ebenda) und
die Überwindung böser durch gute Taten, um sich den Gegner zum Freund zu
machen (41:34f.).
Islam im Dialog
Der Koran enthält auf den ersten Blick sehr widersprüchliche
Aussagen über das Christentum. Dies ist darin begründet, dass er sich
auf unterschiedliche christliche Richtungen seiner Offenbarungszeit
bezieht, darunter "Tritheisten", für die Maria und Jesus Götter neben
dem Schöpfer waren, als auch das Judenchristentum, das vollständig im
Islam aufgegangen ist. Das monotheistische Bekenntnis einschließlich der
Absage an das Bild einer mit einer Gefährtin Kinder zeugenden Gottes ist
jedoch auch maßgebend für die islamische Auseinandersetzung mit dem
Trinitätsdogma der heute vorherrschenden christlichen Bekenntnisse.
Bestimmend für die Stellung zu Judentum und Christentum sind die
Aussagen in der 5. Sure des Koran (Vers 48):
"Jedem von euch haben WIR eine Richtung und einen Weg gegeben. Und wenn
GOTT gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinschaft
gemacht. Doch will ER euch auf die Probe stellen in dem, was ER euch
gegeben hat. So eilt zu den guten Werken um die Wette. Zu GOTT werdet
ihr allesamt zurückkehren, dann wird ER euch kundtun, worüber ihr uneins
wart."
Die Stellung der Frau im Islam
Der Koran geht von der grundsätzlichen Gleichheit von Mann und Frau in
spiritueller Hinsicht aus, nimmt jedoch im sozialen Bereich biologisch
bedingte Unterschiede wahr. So sind z. B. Männer immer den Frauen
gegenüber unterhaltsverpflichtet - unabhängig von den Einkommens- und
Vermögensverhältnissen beider Partner. Der Mann wird in Ehe und Familie
ungleich stärker bezüglich des Unterhalts und der Verteidigung der
Gemeinschaft in die Pflicht genommen als die Frau; daraus resultiert
auch die Bevorzugung im Erbrecht.
Eine große Rolle in der öffentlichen Diskussion spielt z. Z. der
Koranvers 4:34. Hier ist vom Recht des Mannes die Rede, seine
Frau bzw. deren Charakter zu "prägen"; das entsprechende Wort wird
häufig (analog zum deutschen Wort "züchtigen") mit "schlagen" übersetzt.
Zum einen geht es hier um ein Erziehungsrecht, das Gehorsam gegenüber
von Gott und nicht vom Mann gesetzten Regeln sanktionieren soll, zum
anderen äußert Gott sich in Sure 4 in erster Linie "hinsichtlich
verwaister Mädchen" (4:127), die als Minderjährige geheiratet werden, um
"den Waisen gerecht zu werden" (4:3). Die Frage nach der Relevanz
dieser Textstellen für die heutige Lebenswirklichkeit ist
naheliegend. Weiter sollte beachtet werden, dass der Prophet Muhammad
das Schlagen im Allgemeinen und von Frauen im Besonderen abgelehnt hat.
Zu der Offenbarung des zitierten Koranverses sagte er: "Ich wollte
etwas, aber Gott wollte etwas anderes" (Hadith, zitiert bei M. Cook, Der
Koran - eine Einführung, Stuttgart 2002, S. 131).
|